Glosse | Glattaler | 2015

Unglücksrüben

Forscher haben herausgefunden, dass Möhren ganz schöne Mimosen sind. Über das Schicksal post‑traumatisch gestresster Rüben.

Bunte Karotten

Schon mal in eine Möhre gebissen, die bitter schmeckte? Als Freund der rohen Rübenkost passiert mir dies des Öfteren. Ich habe mich dabei jedes Mal gefragt, warum gewisse Exemplare eine so herbe Enttäuschung sind. Da ich das Wurzelgemüse meist geschält verzehre, schied die Schale als Quelle der Bitterkeit aus. So fiel mein Verdacht zunächst auf die Dicke. Je adipöser die Möhre, so meine Theorie, desto bitterer. Mehrfache Essproben ergaben allerdings keinen signifikanten Zusammenhang.

Als nächstes machte ich den Vergleich zwischen biologisch und konventionell angebauten Möhren. Resultat: Verbitterte Genossen gibt es auf beiden Seiten. Ich schloss daraus, dass es etwas mit dem Reifegrad zu tun haben musste. Als aber eine Möhre mit grünem Ansatz süsser schmeckte als ihr knallorangener Kollege, begann ich an meiner gustatorischen Wahrnehmung zu zweifeln. Ob ich tageweise an Geschmacksstörung leide?

Zum Glück gibt es für alle Fragen des Lebens ein Forscherteam, das sich der Sache wissenschaftlich annimmt. So erfuhr ich jüngst von einer Studie, in der Lebensmittelchemiker dem Mysterium der Rübenbitterkeit auf den Grund gegangen sind. Ihr Befund: Karottenpflanzen produzieren eine ganze Reihe an Bitterstoffen – als Reaktion auf Stress. Was soll so eine Möhre denn stressen, werden sich jetzt manche fragen. Offenbar so einiges. Sie kann sich ja schliesslich nicht einfach vom Acker machen. Die arme Rübe sitzt fest, in ständiger Angst vor Schädlingen, Dürre oder Bodenfrost.

Und es kommt noch dicker: Die Forscher fanden heraus, dass die Möhren selbst nach der Ernte noch stressempfindlich sind. Scheinbar mögen es die sensiblen Wurzeln ganz und gar nicht, beim Verlad und Transport unsanft hin und her gerüttelt zu werden. Sie leiden und zahlen es uns mit ungeniessbarer Verbitterung heim. Da soll noch einer sagen, Gemüse hätte keine Gefühle.

Seit ich das weiss, habe ich immer ein bisschen Mitleid, wenn ich mal wieder in eine bittere Rübe beisse. Das arme Ding hat sicher ein Schütteltrauma erlitten oder sonst eine lebensbedrohliche Situation durchgemacht. Ich esse sie dann trotzdem und geniesse sie erst recht. Jeder geht schliesslich anders mit Stress um. Ich werde sauer, Möhren werden bitter – und das ist doch irgendwie süss.


Dieses Glosse erschien im Februar 2015 in der Wochenzeitung Glattaler. Titelbild: Isabel Plana

Über die Autorin

Schreiben, zuhören, recherchieren, hinterfragen, Geschichten widergeben, Zusammenhänge verstehen und erklären: Das mache ich schon seit bald 20 Jahren. Als Geojournalistin verbinde ich das journalistische Handwerk mit dem Hintergrundwissen, das ich mir im Geografiestudium und darüber hinaus im Bereich Umwelt und Naturwissenschaft angeeignet habe. Wenn ich nicht recherchiere oder schreibe, bin ich mit meinem Hund in der Natur, backe Sauerteigbrot, unterrichte Pilates oder fotografiere, am liebsten Insekten.

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Isabel Plana | Bild: Florian Schulz

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