Glosse | Glattaer | 2014

O du Highlige

Dass Glühwein uns berauscht, liegt nicht nur am Alkohol. Ein Blick in die Chemie unseres beliebten Weihnachtsgetränks.

Alle Jahre wieder, steh’ ich vor’m Glühweinstand. Und obwohl mir sagt mein Verstand, leg den Becher nieder, wandert schon zum Mund meine Hand. Der adventliche Trank Körper und Geist beglückt. Doch machen am nächsten Morgen unendliche Kopfschmerzen mich verrückt, und ich denke nur noch: Glühwein ist doch krank.

Genug der trunkenen Poesie. Der beliebte Adventstropfen verdient eine historisch‑naturwissenschaftliche Betrachtung. Restlos geklärt ist die Evolution des modernen Glühweins nicht. Fest steht, dass sich bereits die Römer an Gewürzweinen gütlich taten, allerdings in kalter Ausführung. Die weitere Geschichte ist Gegenstand wilder Spekulationen. Meine Theorie geht so: Die Spanier fügten später Orangen und Zitrone bei und geboren war die Sangría. Das schmeckt doch auch als Heissgetränk, dachten sich die ersten deutschen Touristen an den Stränden Mallorcas und importierten die Rezeptur in ihre Heimat, von wo aus der Glühwein um ein paar wärmende Gewürze angereichert seinen Siegeszug auf den mitteleuropäischen Weihnachtsmärkten antrat.

Kein Zweifel besteht an der Chemie des Glühweins. Längst haben Ernährungswissenschaftler das Geheimnis seiner beglückenden Wirkung gelüftet. Den adventlichen Rausch verdanken wir nicht primär dem Alkohol, der zu einem Grossteil ohnehin verdampft, sondern den biogenen Aminen im Wein. Diese Gärungsprodukte reagieren unter der Einwirkung von Hitze mit den ätherischen Ölen von Anis, Muskat und Nelken zu Amphetaminen – auch bekannt als MDMA oder Ecstasy. Dieselben psychoaktiven Substanzen finden sich übrigens auch in hausgemachten Lebkuchen. Hier verwandelt das als Backtriebmittel beigemischte Ammoniumcarbonat die Gewürzstoffe zu Stimmungsaufhellern.

MDMA macht nicht nur euphorisch, es steigert auch das Kontaktbedürfnis sowie das Gefühl der Nähe und Verbundenheit zu anderen Menschen. Eine Überdosis Glühwein – oder Lebkuchen – steigert also in jeder Hinsicht das weihnachtliche Wohlbefinden. Sollte das Weihnachtsfest wieder einmal den Familienfrieden gefährden, ist der Highligabend mit einer Hand voll hausgemachter Lebkuchen und ein paar Tassen Glühwein gerettet.


Diese Glosse erschien im Dezember 2014 in der Wochenzeitung Glattaler.

Über die Autorin

Schreiben, zuhören, recherchieren, hinterfragen, Geschichten widergeben, Zusammenhänge verstehen und erklären: Das mache ich schon seit bald 20 Jahren. Als Geojournalistin verbinde ich das journalistische Handwerk mit dem Hintergrundwissen, das ich mir im Geografiestudium und darüber hinaus im Bereich Umwelt und Naturwissenschaft angeeignet habe. Wenn ich nicht recherchiere oder schreibe, bin ich mit meinem Hund in der Natur, backe Sauerteigbrot, unterrichte Pilates oder fotografiere, am liebsten Insekten.

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Isabel Plana | Bild: Florian Schulz

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