Interview | Bioterra | 2022

«Orchideen sind eine Auszeichnung für den Garten»

Sie wachsen nicht nur in den Tropen oder im Topf auf der Fensterbank, sondern auch in unseren Wiesen und Wälder. Was unsere einheimischen Orchideen ausmacht, warum sie bedroht sind und wie sie sich im Garten ansiedeln lassen, weiss Orchideen‑Experten Samuel Sprunger.

Die Violette Stendelwurz (Epipactis purpurata) ist eine in der Schweiz heimische Waldorchidee. | Bild: Isabel Plana

Die Violette Stendelwurz (Epipactis purpurata) ist eine von rund 75 einheimischen Orchideenarten, hier ein Exemplar auf dem Üetliberg. | Bild: Isabel Plana

Wie viele einheimische Orchideenarten gibt es?
Samuel Sprunger: Es gibt über 70 einheimische Arten. Im Gegensatz zu ihren tropischen Verwandten, die mehrheitlich als Epiphyten auf Bäumen und anderen Pflanzen wachsen, gedeihen die einheimischen Orchideen auf dem Boden – in Wiesen, Wäldern, Sümpfen und Mooren, und manche auch in steinigen Gebirgshängen.

Also eigentlich überall.
Rund ein Dutzend Arten sind tatsächlich fast in der ganzen Schweiz anzutreffen. Vor allem im Jurabogen von Genf bis Schaffhausen, in der Ostschweiz und den Alpen. Daneben gibt es aber auch einige Arten, die sich auf ganz bestimmte Standorte spezialisiert haben und somit sehr selten sind. Zum Beispiel die Rhone‑Stendelwurz Epipactis rhodanensis, die nur im Rhonetal vorkommt, oder das Österreichische Männertreu Gymnadenia austriaca, das nur auf den Kalksteinböden des westlichen Juras gedeiht. Hinzu kommt, dass über zwei Drittel der einheimischen Orchideenarten mehr oder weniger gefährdet, einige sogar vom Aussterben bedroht sind.

«Viele Wiesenorchideen erreichen die Samenreife erst ab August. Wird bereits im Juni gemäht, können sie sich nicht versamen.»

Was sind die Gründe dafür?
Die Hauptursache ist die intensive Landwirtschaft mit ihren Monokulturen und überdüngten Böden. Sehen Sie, terrestrische Orchideen sind auf bestimmte Bodenpilze angewiesen, mit denen sie eine Symbiose eingehen. Diese Partnerschaft nennt man Mykorrhiza. Fehlen im Boden solche Mykorrhizapilze, kann ein Orchideensame nicht keimen, da das Nährgewebe fehlt. Stickstoffdünger und die starke Bodenbelastung durch die schweren Landmaschinen zerstören diese Mykorrhizapilze. Ein weiteres Problem ist das zu frühe Mähen der Wiesen. Viele Wiesenorchideen erreichen die Samenreife erst ab August. Wird bereits im Juni gemäht, können sie sich also nicht versamen. Und wenn das Heu nicht ordentlich gewendet wird, auch nicht. Denn die Erschütterung trägt dazu bei, dass die Samenkapseln aufplatzen und die Samen mit dem Wind davongetragen werden.

Das Mähen betrifft aber nur die Wiesenorchideen. Wieso sind auch Waldorchideen gefährdet?
Auch im forstwirtschaftlich genutzten Wald kommen schwere, bodenbelastende Maschinen zum Einsatz, und auch dort haben wir teilweise Monokulturen. Auf einer Fläche, auf der in Reih und Glied Fichten angepflanzt werden, kommt kaum mehr Licht auf den Boden. Wie soll da noch etwas wachsen?

Die Violette Stendelwurz (Epipactis purpurata) ist eine in der Schweiz heimische Waldorchidee. | Bild: Isabel Plana
Die Violette Stendelwurz Epipactis purpurata ist eine von über 70 einheimischen Orchideenarten und gedeiht im Wald. | Bild: Isabel Plana

Wie sieht es denn mit dem Hausgarten aus – lassen sich da einheimische Orchideen ansiedeln?
Ja, das ist gut möglich – wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

Welche?
Ein naturnaher Garten mit gesundem Boden und Bodenpilzen, kein Stickstoffdünger, statt Rasen eine Blumenwiese, die nur einmal im Spätsommer gemäht wird – und Geduld, bis irgendwann einmal ein Orchideensamen in den Garten fällt.

Aber was, wenn es in der Gegend gar keine wild wachsenden Orchideen mehr gibt, die sich versamen?
Orchideensamen sind winzig und sehr leicht. Sie können mit dem Wind über Hunderte von Kilometern verbreitet werden. Wenn es also in einem grossen Umkreis noch naturbelassene oder ökologisch bewirtschaftete Flächen mit Orchideenbeständen gibt, stehen die Chancen nicht schlecht, dass irgendwann einmal ein Samen den Weg in Ihren Garten findet.

«Auch ein Nutzgarten kann – sofern er ökologisch gestaltet und gepflegt wird – Orchideen einen Lebensraum bieten.»

Wie lange hat das bei Ihnen gedauert?
Meine Frau und ich haben unseren Garten vor rund 45 Jahren angelegt. Etwa nach zehn Jahren hatten wir die ersten blühenden Orchideen. Mittlerweile sind es drei Arten, die in unseren Garten eingewandert sind und sich hier auch vermehrt haben: Das Gefleckte Knabenkraut Dactylorhiza maculata, das Schwärzliche Knabenkraut Neotinea ustulata und die Spitzorchis Anacamptis pyramidalis.

Und das, obwohl Ihr Garten kein reiner Naturgarten ist.
Genau. Wir hatten von Anfang an Gemüsebeete, die wir aber nur mit dem eigenen Kompost düngen. Und einen Teil der Wiese muss ich regelmässig mähen, damit unsere Grosskinder Platz zum Spielen haben. Ich lasse aber rundherum einige ungemähte Inseln stehen, wo die Orchideen blühen und Samen ausbilden können. Die Samen sind etwa 6 bis 8 Wochen nach der Blüte reif – ich mähe diese Inseln daher erst Mitte August. Das zeigt: Auch ein genutzter Garten kann – sofern er ökologisch gestaltet und gepflegt wird – Orchideen einen Lebensraum bieten.

Wie sieht es aus mit Orchideen im Topf auf Balkon oder Terrasse? Geht das?
Das ist sicher nicht unmöglich, aber schwierig. Man muss sich da gut auskennen. Denn nur wenige einheimische Arten vertragen solche extremen Bedingungen. Es gibt Versuche an der ZHAW in Wädenswil, die gezeigt haben, dass gewisse Orchideenarten als Begrünung auf Flachdächern gut kommen. Vielleicht eignen sich diese Arten auch für die Topfkultur.

Zurück zum Punkt Geduld: Nicht alle mögen zehn Jahre warten. Kann man die Sache beschleunigen und einheimische Orchideen auch in Gärtnereien kaufen?
Ja, es gibt Gärtnereien, die einheimische Orchideen im Angebot haben. Aber beim Kauf ist Vorsicht geboten. Man sollte sicher sein, dass die Orchideen auch wirklich in der Gärtnerei gezogen und nicht irgendwo in der Natur ausgegraben wurden. Das kommt leider immer wieder vor – ist aber verboten. Auch Pflücken darf man sie nicht. Denn alle einheimischen Orchideen stehen unter Schutz. Was beim Kauf hinzukommt: Orchideen sind ziemlich teuer. Beim Gelben Frauenschuh Cypripedium calceolus kann eine Pflanze schon mal zwischen 70 und 120 Franken kosten. Das ist auch verständlich, denn Orchideen sind aufwendig zu ziehen. Die Anzucht erfolgt in der Petrischale in Laborarbeit. Und bis die ersten Blätter angelegt sind und die Pflanze in den Verkauf kann, dauert es lange – beim Frauenschuh 6 bis 8 Jahre.

Orchideen-Experte Samuel Sprunger. | Bild: Bioterra/Stefan Walter
Samuel Sprunger, 79, wohnt mit seiner Frau unweit von Basel im Elsass. Er war Gärtner im Tropenhaus des Botanischen Gartens Basel und später über 30 Jahre lang Biologie‑Fachlehrer für die Grünen Berufe an der Allgemeinen Gewerbeschule Basel. Er ist Mitbegründer der Schweizer Orchideenstiftung und engagiert sich verschiedentlich für die einheimischen Orchideen, unter anderem mit einem Projekt zur Wiederansiedlung des Gelben Frauenschuhs. Beim Bau der Autobahn‑Teilstrecke bei Courgenay im Kanton Jura (1996 bis 2004) half er bei der Umsetzung der ökologischen Ausgleichsflächen mit. Wo damals Maisfelder standen, wachsen heute Ökowiesen mit verschiedenen Orchideenarten. | Bild: Bioterra/Stefan Walter

Unter Ihrem Kirschbaum dort drüben wachsen auch Gelbe Frauenschuhe – haben Sie die gekauft?
Diese Frauenschuhe sind Teil eines Projekts, das ich mit der Schweizerischen Orchideenstiftung vor gut zehn Jahren lanciert habe. Die Frauenschuh‑Bestände im Jurabogen sind in den vergangenen 30 Jahren stark zurückgegangen. Wir wollten etwas dagegen tun und wieder Frauenschuhe in die Natur auspflanzen. Dafür haben wir mit neun Kantonen zusammengearbeitet, in denen sie wachsen, und haben dort – mit der entsprechenden Bewilligung – Frauenschuhsamen gesammelt. Eine spezialisierte Orchideen‑Gärtnerei in Holland hat uns daraus 3000 Pflanzen gezogen, die wir 2018 in den neun Kantonen an verschiedenen, geheimen Standorten wieder ausgepflanzt haben. Um herauszufinden, ob kultivierte Orchideen eine solche Auspflanzung in die freie Wildbahn überhaupt überstehen können, hatten wir zu Beginn des Projekts in meinem Garten einen Versuch durchgeführt: Wir pflanzten 28 Frauenschuhe unter den Kirschbaum.

Und, wie ist der Versuch ausgegangen?
Die 28 Frauenschuhe haben alle überlebt, vor neun Jahren das erste Mal geblüht und bereits eine zweite Generation hervorgebracht.

Wie sieht es mit den 3000 Exemplaren aus, die Sie in die Natur ausgepflanzt haben?
An manchen Standorten besser als an anderen. Der heisse und trockene Sommer 2018 war eine Herausforderung für die Jungpflanzen. Mancherorts mussten wir in dieser Zeit regelmässig giessen gehen. Rund zwei Drittel, also etwas mehr als 2000 Frauenschuhe, überlebten das erste Jahr.

«Einheimische Orchideen sind Täuschblumen. Der Trickreichtum, mit dem sie Bestäuberinsekten anlocken, ist faszinierend.»

Wie sind Sie eigentlich zum Orchideen‑Experten geworden?
Ich bin auf einem Bauernhof in Courgenay im Jura aufgewachsen. Unsere Wiesen waren voller Orchideen. Später machte ich eine Gärtnerlehre in Liestal und verbrachte einen Grossteil meiner Freizeit im Botanischen Garten in Basel. Ich habe die Gärtner dort ausgefragt, weil mich das alles so sehr interessierte. Davon bekam der Professor des Botanischen Instituts Wind. Er bot mir nach Abschluss der Lehre einen Job als Gärtner im Tropenhaus an, unter der Bedingung, dass ich auch seine Vorlesung besuchte. Und er schickte mich für eine Weiterbildung für Botanische Gärtner in die Kew Gardens nach England. Später unternahm ich diverse Reisen ins tropische Südamerika.

Was fasziniert Sie an einheimischen Orchideen?
Zum einen ihr Aussehen: Diese grazilen, aufrechten Blütenstände der Wiesenorchideen, die oftmals spektakulären Farben und Muster der Blüten und teilweise auch der Blätter.

Und zum anderen?
Der Trickreichtum, mit dem sie Bestäuberinsekten anlocken. Einheimische Orchideen sind Täuschblumen: Sie geben vor, ein Insekt oder eine Futterquelle zu sein. Manche Arten machen das mit speziellen Duftstoffen. Andere imitieren mit ihren Blüten ein weibliches Insekt, um Drohnen anzulocken.

Orchideen geben also vor, eine Futterquelle zu sein – sind es aber gar nicht?
Richtig. Sie haben keine Pollen, sondern sogenannte Pollinien, eine Art klebrige Pollenklumpen. Mit diesen können Bienen und Hummeln nichts anfangen. Nur wenige einheimische Orchideenarten produzieren Nektar.

Immer mehr Leute legen Wert auf einen insektenfreundlichen Garten. Was bringt es, Orchideen zu pflanzen?
Sie sind einfach wunderschön und faszinierend. Und sind sie Zeigerpflanzen: Wo Orchideen wachsen, ist das Biotop gesund und im Gleichgewicht – und kann viele verschiedene Arten tragen, die wiederum Insekten Nahrung bieten. Orchideen sind sozusagen eine Auszeichnung für den Garten.


Dieses Interview erschien im Mai 2022 im Magazin Bioterra. Titelbild: Violette Stendelwurz, eine einheimische Waldorchidee. © Isabel Plana

Über die Autorin

Schreiben, zuhören, recherchieren, hinterfragen, Geschichten widergeben, Zusammenhänge verstehen und erklären: Das mache ich schon seit bald 20 Jahren. Als Geojournalistin verbinde ich das journalistische Handwerk mit dem Hintergrundwissen, das ich mir im Geografiestudium und darüber hinaus im Bereich Umwelt und Naturwissenschaft angeeignet habe. Wenn ich nicht recherchiere oder schreibe, bin ich mit meinem Hund in der Natur, backe Sauerteigbrot, unterrichte Pilates oder fotografiere, am liebsten Insekten.

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Isabel Plana | Bild: Florian Schulz

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