Höhlen sind so etwas wie sein zweites Zuhause. Daran lässt Marc Lütscher keinen Zweifel, so flink wie er sich der tropfnassen Höhlenwand entlang hangelt, durch schmale Schächte schlüpft und über die versinterten Felsen klettert, ohne sich den Kopf an einem Stalaktiten zu stossen oder im verzweigten Höhlensystem die Orientierung zu verlieren. «Ich verbringe tatsächlich recht viel Zeit in Höhlen. Manchmal sogar zwei, drei Tage am Stück, je nach dem wie gross eine Höhle ist und wie lange ich für alle Probeentnahmen und Messungen brauche.»
Das Biwakieren in der Unterwelt bleibt ihm und seiner weniger höhlenerprobten Begleitung an diesem Tag erspart. Wir befinden uns in der «Grotte de Milandre», einer rund 10 Kilometer langen, gut erforschten Höhle bei Boncourt im Kanton Jura. Über Jahrtausende haben hier Niederschlag und Kohlendioxid aus der Vegetation das darunterliegende Kalkgestein verwittert und verkarstet; hat sich das Wasser seinen Weg durch den Untergrund gebahnt. Davon zeugt noch heute der Bach, der durch die «Grotte de Milandre» plätschert und ein Grundwasserreservoir speist. Marc Lütscher und seine Kollege vom Schweizerischen Institut für Speläologie und Karstforschung (SISKA) haben hier zurzeit einen Feldversuch laufen. «Im Juni 2014 haben wir einen Farbtracer eingebracht, um herauszufinden, wie lange das Wasser braucht, bis es durch den Karst sickert und in der Höhle heraustropft.» Seither hat Lütscher aus den zehn in der Höhle verteilten Auffangbehältern regelmässig Proben genommen. Vom Tracer war bisher keine Spur. «Mal schauen, ob wir heute mehr Glück haben», meint er und greift nach dem ersten Behälter.
Was der Calcit verrät
Seit gut 15 Jahren erforscht Lütscher die Hydrologie von Karstsystemen und die paläoklimatische Bedeutung von Tropfsteinen, auch Höhlensinter genannt. Sie sind zunehmend ins Interesse der Klimaforschung gerückt, denn ihre Entwicklung hängt massgeblich von Niederschlag und Temperatur ab. Minerallage um Minerallage halten sie, wie die Jahrringe eines Baumes oder die Schichten eines Eisbohrkerns, die herrschenden Klimaeinflüsse fest. Vereinfacht kann man sagen: Ein schnelles Sinterwachstum weist auf grössere Niederschlags- oder Schmelzwassermengen und hohe Temperaturen hin. Wachsen die Tropfsteine hingegen nur langsam oder gar nicht, ist das ein Indiz für kalte, trockene Verhältnisse oder aber Temperaturen unter dem Gefrierpunkt – ohne flüssiges Wasser, keine Sinter.
Gegenüber anderen Klima-Archiven haben Tropfsteine gewisse Vorteile. Im Gegensatz zu Bäumen etwa können sie mehrere hunderttausend Jahre alt sein und auch Eiszeiten überdauern. Während geomorphologische Indizien wie Gletscherschliffe oder Findlinge nur ein Schnappschuss im Vergletscherungsprozess sind, liefern Tropfsteinen ganze Zeitreihen. Das hat sich Marc Lütscher für die Erforschung des Alpenklimas während der Eiszeit zu Nutze gemacht hat.
Tropfsteine aus der Eiszeit
Anhand von zwei Stalagmiten aus der Sieben-Hengste-Höhle nördlich des Thunersees ist es Lütscher und seinen Kollegen gelungen, die Niederschlagsgeschichte am Alpennordhang während des letzten Hochglazials durchgehend zu rekonstruieren. Das komplexe Höhlensystem nördlich von Interlaken erstreckt sich über eine Fläche von rund 22 Quadratkilometer. Dutzende Gänge durchziehen den 200 Meter mächtigen Schrattenkalk des Sieben-Hengste-Massivs. «Die beiden Tropfsteine haben wir tief im Innern des Höhlensystems, rund 200 Meter unter der Oberfläche gefunden», erzählt Lütscher. Sie waren bereits abgebrochen – vor etwa 14’000 Jahren, wie die Altersbestimmung der jüngsten Calcit-Lage ergeben sollte. Der grössere der beiden Sinter hatte vor etwa 30’000 Jahren zu wachsen begonnen, der kleinere vor etwa 23’000. Damit deckten sie das gesamte Würm-Hochglazial ab.
Die Vermutung liegt nahe, dass die Tropfsteine während der maximalen Vergletscherung mangels flüssigen Wassers einen Wachstumsstopp verzeichneten. Doch Lütschers Befunde deuten auf das Gegenteil hin: «Die untersuchten Tropfsteine zeugen von einem kontinuierlichen, wenn auch phasenweise verlangsamten Sinterwachstum in der Sieben-Hengste-Höhle während des gesamten letzten Hochglazials.» Es muss also selbst zur Zeit der maximalen Vergletscherung der Alpen in dieser Höhenlage von 1700 Metern über Meer periodisch Schmelzwasser oder Niederschlag in Form von Regen gegeben haben. «Unsere Resultate hinterfragen bestehende glaziologische Modelle, die von trockenen und kalten Verhältnissen oder gar Permafrost in den Nordalpen ausgehen», sagt Lütscher. Hingegen stützten sie die gängigen Atmosphärenmodelle, die eine Verlagerung des Jet-Streams nach Süden und eine vermehrte Südströmung im Alpenraum besagen. «Es müssen feuchte und verhältnismässig warme Luftmassnahmen von Süden auf die Alpennordseite gelangt sein, anders lässt sich das Sinterwachstum in der Sieben-Hengste-Höhle nicht erklären.»
Und noch eine interessante Beobachtung machte der Paläoklimatologe: Die Sauerstoffisotopen-Verhältnisse in den Calcit-Schichten der beiden Tropfsteine weisen darauf hin, dass die Vergletscherung ihren Höchststand 3000 Jahre vor dem globalen Eiszeitlichen Maximum erreichte. Ob es sich dabei um ein regionales Phänomen handelt und welches die Gründe dafür sein könnten, wird Lütscher weiter untersuchen.
Helfen könnten ihm dabei auch die Erkenntnisse aus der «Grotte de Milandre».
Eine Höhle wie keine andere
Im Schein der Stirnlampe schaut sich Marc Lütscher den Inhalt des Auffangbehälters an. Das Tropfwasser ist farblos. «Wenn der Tracer nur in geringer Konzentration vorhanden ist, lässt sich das von Auge nicht erkennen», meint er zuversichtlich und füllt ein paar Milliliter in eine kleine Ampulle. Erst die Laboranalyse in Innsbruck, wo Lütscher seit einigen Jahren lebt und forscht, wird Gewissheit bringen. Die Spannung ist gross. «Wenn der Tracer nicht bald auftaucht, steht das ganze Vorhaben auf dem Spiel.» Das Vorhaben ist kein Geringeres, als die «Grotte de Milandre» zu einem unterirdischen Experimentierlabor zu machen. Keine Höhle eignet sich dafür so gut wie diese.
«Wir können hier verschiedene Niederschlagsregimes und unterschiedlich starke Bodenaktivität simulieren und schauen, welchen Effekt die Veränderung dieser Parameter auf die Höhle haben.»
Grund dafür ist die Autobahn, die teilweise über die Höhle hinweg führt. Für den Bau der A16 wurde der Epikarst, die poröse, an den Boden angrenzende obere Schicht des Karsts, im Bereich der Fahrbahn weitgehend abgetragen und der Boden versiegelt. Was die Zerstörung eines einzigartigen Geotops befürchten liess, erwies sich für die Wissenschaft als Glücksfall. Unter dem Zutun von Höhlenexperten und Karst-Forschern, die beim Bau des Autobahnstücks involviert waren, wurden unter dem Fahrbelag Rohre verlegt, über die sich kontrolliert Wasser und CO2 in den verbleibenden Epikarst einspeisen lassen. Die Zufuhr erfolgt über zwei entsprechende Anschlüsse im Kontrollzentrum auf dem Autobahntunnel. «Wir können hier also verschiedene Niederschlagsregimes und unterschiedlich starke Bodenaktivität simulieren und schauen, welchen Effekt die Veränderung dieser Parameter auf den Abfluss und die Versinterung in der Höhle haben», erklärt Lütscher. Besonders interessiert ihn die Rolle der Vegetation. Wie lässt sich eine Zu- oder Abnahme der Vegetation in den Sintern erkennen oder gar quantifizieren? Eine Antwort darauf könnte ihn bei der Erforschung des Eiszeiten-Klimas in den Alpen weiterbringen.
Doch all das ist nur möglich, wenn das Karstsystem noch intakt ist und innert nützlicher Frist auf die künstlich veränderten Parameter reagiert. Hier kommt nun der Farbtracer ins Spiel. «Sollte sich herausstellen, dass der Tracer die Höhle nicht oder erst in mehreren Jahren erreicht, könnten wir die geplanten Experimente vergessen», sagt Lütscher. Denn mit den bescheidenen Forschungsgeldern, die in die Karstforschung flössen, liessen sich langjährige Studien nicht finanzieren. Noch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben. Er packt seine Hilfsmittel in den wasserdichten Beutel, rückt den Helm zurecht und stapft wieder in den Bach, der ihn tiefer in die Höhle hinein zu den anderen neun Probe-Standorten führt.
Der Wasserhahn wird zugedreht
Es sollte noch einen Monat dauern, bis der Farb-Tracer schliesslich in den Tropfwasser-Proben auftauchte. Lütschers Vision eines Höhlenlabors in der «Grotte de Milandre» steht nun nichts mehr im Weg. Die ersten Experimente sind bereits geplant: «Wir wollen nachweisen, ob und wie sich extreme Klimaereignisse wie Dürren oder Starkniederschläge im Calcit der Sinter widerspiegeln», sagt Lütscher. Dafür werden seine Kollegen und er den Wasserhahn über längere Zeiträume zu- oder eben aufdrehen. «Ausgehend von den Ergebnissen können wir vielleicht bald schon rekonstruieren, wann es in der Vergangenheit zu solchen Ereignissen kam – und letztlich Klimaschwankungen besser verstehen.» Dafür wird Lütscher noch viele Tage im Dunkeln tappen.