Porträt | Bioterra | 2022

Den Schnecken auf der Spur

Schnecken haben viele Gesichter. Das fasziniert Estée Bochud, Biologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Naturhistorischen Museum Bern. Um Forschenden die Arbeit zu erleichtern und Laien für die Welt der Schnecken zu begeistern, hat sie ein Bestimmungs‑Tool für die einheimischen Weichtierarten entwickelt.

Estée Bochud, Malakologin am Naturhistorischen Museum Bern. | Bild: NMBE/Schäublin

Estée Bochud, Malakologin am Naturhistorischen Museum Bern. | Bild: NMBE/Schäublin

Sie zieht eine der zig Schubladen aus dem raumhohen Rollregal und klaubt ein kleines Plastikdöschen heraus. «Hier, das ist meine Lieblingsschnecke», sagt Estée Bochud. Wir befinden uns in der Weichtiersammlung des Naturhistorischen Museums in Bern. Über 4 Millionen Schnecken und Muscheln werden hier aufbewahrt, 11'000 Arten aus aller Welt. Eines dieser Exemplare hält Estée Bochud nun zwischen ihren Fingern. «Der Steinpicker, eine Landschnecke, die unter anderem im Jura vorkommt und sich dank ihres flachen Gehäuses in schmale Felsspalten zurückziehen kann. Mir gefällt die Musterung der Gehäuse, die bei dieser Art von Individuum zu Individuum ganz verschieden sind.» Es ist diese Vielfalt, welche die Evolution sowohl zwischen den Arten als auch innerhalb ein und derselben Art hervorgebracht hat, die Estée Bochud schon immer faszinierte und zum Biologie‑Studium bewog. Dass sie danach Malakologin – Weichtierforscherin – geworden ist, war Zufall. «Mich interessierte die Arbeit an einem Forschungsmuseum. Und in der Weichtiersammlung hier am Naturhistorischen Museum Bern konnte ich damals ein Praktikum absolvieren.» Daraus wurde später eine Festanstellung. «Es hat einfach gepasst. Nicht zuletzt deshalb, weil ich schon immer gern sortiert und Ordnung gemacht habe», so die 35‑Jährige.

«Es ist eine Detektivarbeit. Ich versuche ständig, etwas herauszufinden, sei es Ort oder Zeitpunkt, an dem ein Gehäuse gefunden wurde, oder welcher Art ein Exemplar angehört.»

Eine ihrer Aufgaben als wissenschaftliche Mitarbeiterin ist es, die Muscheln und Gehäuseschnecken, die dem Museum oft von privaten Sammlern überlassen werden, zu bestimmen, zu dokumentieren und zu inventarisieren. «Es ist im Grunde auch eine Detektivarbeit. Ich versuche ständig, etwas herauszufinden, sei es Ort oder Zeitpunkt, an dem ein Gehäuse gefunden wurde, oder welcher Art ein Exemplar angehört. Das ist spannend, und manchmal auch ein bisschen frustrierend.» Denn die Bestimmung ist oft eine Knacknuss. Weil sich verschiedene Arten sehr ähnlich sehen, während innerhalb mancher Arten die Varianz riesig ist. «Das bedeutet, dass ein bestimmtes Merkmal ganz unterschiedliche Ausprägungen haben kann. So werden diese Exemplare leicht einer falschen Art zugeordnet.» Selbst Forscher seien sich bei der Abgrenzung mancher Arten nicht einig. Wie schwierig die Bestimmung einheimischer Schnecken und Muscheln ist, stellte Estée Bochud auch in den Uni‑Vorlesungen, bei denen sie assistiert, immer wieder fest. «Mir fiel auf, dass die Studierenden mit dem veralteten Bestimmungsbuch, das sehr textlastig ist und kaum Bilder enthält, Mühe hatten.» Da muss es doch eine bessere Lösung geben, dachte sie sich und beschloss, einen digitalen, benutzerfreundlichen Bestimmungsschlüssel zu entwickeln.

Vier Jahre, viel Kopfzerbrechen und noch mehr Arbeit mit Weichtierexperten und Programmierern später ging der Bestimmungsschlüssel schneckenchecken.ch 2019 online. Er umfasst 281 einheimische Molluskenarten – Nacktschnecken, Gehäuseschnecken und Süsswassermuscheln. Mit Fragen und Referenzbildern wird man Schritt für Schritt zur Lösung geführt. Die Webapplikation richtet sich dabei nicht nur an Fachleute, sondern ist auch für Laien einfach zu nutzen. Dass Schnecken nicht sonderlich beliebt seien, hänge auch damit zusammen, dass viele Menschen ihren Nutzen nicht sehen würden. «Zum einen sind Schnecken Nahrung für andere Tiere wie Igel und Blindschleichen. Zum anderen übernehmen sie in der Natur eine wichtige Funktion als Destruenten – genau wie Regenwürmer zersetzen sie pflanzliches Material und führen die organischen Substanzen in den Kohlenstoffkreislauf zurück.»

«Mich nerven die Schnecken in meinem Garten auch. Aber das gehört halt zum Gärtnern dazu.»

Dumm nur, dass sie dabei – egal ob Häuschen- oder Nacktschnecke – nicht zwischen Nutzpflanze und Beikraut unterscheiden. «Mich nerven die Schnecken in meinem Garten auch», sagt Estée Bochud, «aber das gehört halt zum Gärtnern dazu.» Von Schneckenkörnern, auch den biologischen, lässt sie die Finger. Stattdessen sammelt sie die gefrässigen Weichtiere ab. «Um den Frust klein zu halten, habe ich ausserdem auf einen Gemüsegarten verzichtet. Bei den Stauden und Blumen machen mir Frassspuren weniger aus.» Verwirrung sei aus ihrer Sicht die beste Taktik. «Je aufgeräumter der Garten, umso übersichtlicher ist er für die Schnecken, und umso schneller kommen sie ans Ziel. In einem wilden, dicht bewachsenen Garten werden sie hingegen abgelenkt. So lässt sich ein Totalschaden an einer Pflanze oder Kultur vermeiden.» Im Garten darf es also unordentlich sein. In der Sammlung ist Aufräumen angesagt. Estée Bochud hat den Steinpicker wieder in sein Döschen gepackt. Schublade zu, Licht aus, zurück ins Büro ans Mikroskop. Die Detektivarbeit ruft.


Dieses Porträt erschien im April 2022 im Magazin Bioterra. Titelbild: NMBE/Schäublin

Über die Autorin

Schreiben, zuhören, recherchieren, hinterfragen, Geschichten widergeben, Zusammenhänge verstehen und erklären: Das mache ich schon seit bald 20 Jahren. Als Geojournalistin verbinde ich das journalistische Handwerk mit dem Hintergrundwissen, das ich mir im Geografiestudium und darüber hinaus im Bereich Umwelt und Naturwissenschaft angeeignet habe. Wenn ich nicht recherchiere oder schreibe, bin ich mit meinem Hund in der Natur, backe Sauerteigbrot, unterrichte Pilates oder fotografiere, am liebsten Insekten.

E-Mail / LinkedIn

Isabel Plana | Bild: Florian Schulz

Weitere Arbeiten

Reportage

Steter Tropfen schreibt Klimageschichte

Wie eine Höhle im Jura zu einer Art Zeitmaschine geworden ist.

Lesen

Reportage

Der Natur abgeschaut

Was Hobbits mit Permakultur zu tun haben.

Lesen

Alle Arbeiten

Weitere Arbeiten

Reportage

Steter Tropfen schreibt Klimageschichte

Wie eine Höhle im Jura zu einer Art Zeitmaschine geworden ist.

Lesen

Reportage

Der Natur abgeschaut

Was Hobbits mit Permakultur zu tun haben.

Lesen

Alle Arbeiten