Wissenschaftsartikel | SLF | 2022

Instabile Hänge besser verstehen

Rutschen, kriechen, kippen, sacken: Die Bewegungs- und Deformationsprozesse, die in einem instabilen Berghang vor sich gehen, sind vielfältig und komplex – und häufig nicht genau bekannt. SLF‑Forschende haben am Beispiel von drei grossflächigen Hanginstabilitäten in den Schweizer Alpen eine neue, vielversprechende Analysemethode erprobt, die ein detaillierteres Bild der vorherrschenden Prozesse liefert und das Gefahren‑Monitoring entscheidend verbessern könnte.

Luftbild des Dorfs Brienz/Brinzauls, Gemeinde Albula/Alvra (GR), im Zentrum mit dem darüber gelegenen instabilen Rutschhang. | Bild: SLF/Christoph Nänni

Dem Bündner Dorf Brienz/Brinzauls droht ein Bergsturz. | Bild: SLF/Christoph Nänni

Der Pizzo Cengalo im Bergell, der «Spitze Stei» im Berner Oberland und der Hang ob dem Bündner Dorf Brienz/Brinzauls haben eines gemeinsam: Seit Jahren in Bewegung, sind sie eine Gefahr für Mensch und Infrastruktur. Deshalb werden sie rund um die Uhr überwacht. Zusätzlich werden diese Hänge regelmässig mit einem Laser‑Scanner vermessen. Dieses sogenannte LIDAR‑Gerät tastet die Erdoberfläche auf einem regelmässigen Raster ab. Für jeden erfassten Punkt im Gelände wird die Laufzeit des Laserstrahls in eine Distanz umgerechnet. Aus der Gesamtheit dieser Messpunkte, der sogenannten Punktwolke, lässt sich anschliessend ein Modell der Geländeoberfläche berechnen. Vergleicht man die zu verschiedenen Zeitpunkten gemessenen Punktwolken miteinander, werden Veränderungen im Gelände erkennbar. Das übernimmt natürlich der Computer und ist alles andere als trivial. Es gibt verschiedene Methoden, die Punktwolken zu vergleichen und die Differenzen zwischen ihnen zu berechnen. Je nach Forschungsfrage wird ein anderer Ansatz gewählt.

Das Problem: Keine der gängigen Methoden bildet die Bewegungs- und Deformationsprozesse im Hang ganzheitlich und dreidimensional ab. Sie zeigen zwar, dass und mit welcher Geschwindigkeit sich die Oberfläche verändert hat, aber nicht, wie dies geschieht. «Eine Aussage darüber zu treffen, wie genau sich die Gesteinsmassen deformieren – ob sie rutschen, sacken, auseinanderreissen oder kippen – und wie diese Prozesse in den unterschiedlichen Bereichen des Hangs zusammenspielen, war bisher oft mit grösseren Unsicherheiten verbunden», sagt Robert Kenner, Mitarbeiter der Forschungseinheit Alpine Umwelt und Naturgefahren am SLF. Diese Informationen wären für das Gefahren‑Management jedoch sehr wertvoll. Deshalb weckte ein kürzlich am Institut für Geodäsie und Photogrammetrie der ETH Zürich entwickelter Algorithmus zur Analyse von Punktwolken Robert Kenners Interesse.

Hangbewegungen in 3D

Mit der neuartigen Methode lässt sich nahezu jedem Punkt ein 3D‑Deformationsvektor zuordnen. Man kann also genau sagen, wie die einzelnen Punkte ihre Lage verändert haben und daraus die Deformations- und Bewegungsprozesse in verschiedenen Bereichen des Hangs ableiten. «Das Interessante an diesen 3D‑Deformationsvektoren ist ausserdem, dass wir daraus in einigen Fällen die Gleitflächen modellieren können.» Jene im Untergrund verborgenen Schichten also, auf denen die Erd- und Gesteinsmassen ins Rutschen kommen. Den um das Gleitflächenmodell ergänzten Algorithmus haben Kenner und sein Projektteam an den Beispielen Pizzo Cengalo, «Spitze Stei» und Brienzer Rutsch getestet – mit teils unerwarteten Ergebnissen.

Relative Deformation des Rutschhangs oberhalb Brienz/Brinzauls in Graubünden. | Grafik: SLF/Robert Kenner
Relative Deformation des Rutschhangs oberhalb Brienz/Brinzauls in Graubünden. Die roten Zonen deformieren sich besonders stark im Vergleich zum übrigen Hang. Die Pfeile zeigen Grenzen zwischen verschiedenen Hangteilen, die sich unterschiedlich schnell oder in verschiedene Richtungen bewegen. | Grafik: SLF/Robert Kenner

Im Fall Brienz/Brinzauls, wo sich 1878 ein grosser Bergrutsch ereignete, ging man lange davon aus, dass es sich um einen durchgehenden Rutschprozess handelt. «Im oberen und unteren Teil der Instabilität hat unsere Analyse das Rutschen bestätigt. Dazwischen jedoch konnten wir keine Gleitfläche nachweisen. Stattdessen deuten unsere Daten hier auf einen Kippprozess hin.» Bohrungen, die der Kanton kurz darauf im Gelände machte, bekräftigten die Ergebnisse der SLF‑Forscher, dass keine durchgängige Gleitfläche vorhanden ist.

Test bestanden

Die Ergebnisse ihrer Studie waren so überzeugend, dass Robert Kenner und seine Kollegen bereits dabei sind, die neue Methode ins laufende Gefahren‑Monitoring‑Programm zu integrieren. «Die 3D‑Analyse der Punktwolke bringt einen erheblichen Informationsgewinn für das Verständnis von Bewegungs- und Deformationsprozessen in Felshängen, und das wiederum verbessert die Gefahrenbeurteilung entscheidend», sagt Kenner. Um die Methode und insbesondere das Gleitflächenmodell auch unter anderen Gegebenheiten zu validieren, werden die Forscher diese in naher Zukunft auch an weiteren Standorten testen.


Dieser News-Beitrag erschien im Juni 2022 auf der Website des Schnee- und Lawinenforschungsinstituts SLF. Titelbild: SLF/Christoph Nänni

Über die Autorin

Schreiben, zuhören, recherchieren, hinterfragen, Geschichten widergeben, Zusammenhänge verstehen und erklären: Das mache ich schon seit bald 20 Jahren. Als Geojournalistin verbinde ich das journalistische Handwerk mit dem Hintergrundwissen, das ich mir im Geografiestudium und darüber hinaus im Bereich Umwelt und Naturwissenschaft angeeignet habe. Wenn ich nicht recherchiere oder schreibe, bin ich mit meinem Hund in der Natur, backe Sauerteigbrot, unterrichte Pilates oder fotografiere, am liebsten Insekten.

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Isabel Plana | Bild: Florian Schulz

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